Der Ruf der Horde by Mario Vargas Llosa

Autor:Mario Vargas Llosa [Llosa, Mario Vargas]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Adam Smith, Autobiographie, Friedrich Hayek, Isaiah Berlin, Jean-François Revel, José Ortega y Grasset, Karl Popper, Liberalismus, Mario Vargas Llosa, Nobelpreis, Peru, Raymond Aron, Vargas Llosa
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2019-01-14T23:00:00+00:00

Die geschlossene Gesellschaft und die Welt 3

Am Anfang der Menschheitsgeschichte war nicht das Individuum, sondern der Stamm, die Horde, die geschlossene Gesellschaft. Der souveräne Einzelne, der sich emanzipiert von dieser ursprünglichen, eifrig auf Geschlossenheit bedachten Gemeinschaft, um dem wilden Tier, dem Blitz, den bösen Geistern und zahllosen Ängsten der primitiven Welt zu trotzen, ist ein recht spätes Phänomen. Es zeichnet sich ab mit dem Aufkommen des kritischen Geistes – der Entdeckung, dass das Leben und die Welt Probleme sind, die gelöst werden können und gelöst werden müssen –, das heißt mit der Entwicklung des rationalen Denkens und des Rechts, dieses auszuüben, unabhängig von den religiösen und politischen Autoritäten.

Nach Karl Poppers Theorie, skizziert 1945 in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde und 1972 weiter ausgeführt in Objektive Erkenntnis, ist dieser Grenzmoment, der Übergang von der geschlossenen Gesellschaft zur offenen Gesellschaft, im Griechenland der Vorsokratiker anzusetzen – Thales, Anaximander, Anaximenes –, und seinen entscheidenden Impuls erhielt er mit Perikles und Sokrates. Die These wurde natürlich kontrovers diskutiert, aber selbst wenn wir Daten und Namen beiseitelassen, bleibt das Wesentliche gültig: Irgendwann, ob zufällig oder als Folge eines komplexen Prozesses, war für manche Menschen das Wissen nicht länger ein magisches und abergläubisches, ein Korpus heiliger, tabugestützter Glaubensvorstellungen, und es erwachte der kritische Geist, der die religiösen Wahrheiten – die einzigen bis dahin möglichen – einer rationalen Analyse unterzog und sie mit der praktischen Erfahrung konfrontierte. Dieser Übergang sollte, zugleich mit dem Aufbrechen der tribalen Isolation durch den Handel, eine außerordentliche Entwicklung in Gang setzen, in den Wissenschaften, den Künsten, der Technik, überhaupt in der menschlichen Kreativität, und ebenso war es die Geburt des einzigartigen, entkollektivierten Individuums, Fundament einer Kultur der Freiheit. Ob zu ihrem Vorteil oder ihrem Nachteil, denn unmöglich lässt sich beweisen, dass dieser Wandel die Menschen glücklicher gemacht hat, nahm die intellektuelle Enttribalisierung ein so rasantes Tempo auf, dass sie manche Gesellschaften auf sämtlichen Gebieten in eine systematische Entwicklung katapultierte. Der historische Beginn einer Ära der Rationalität und des kritischen Geistes – der wissenschaftlichen Wahrheiten – bedeutete, dass es von nun an nicht mehr die erste und nicht die zweite, sondern die »dritte Welt« bzw. »Welt 3« ist, die einen entscheidenden Einfluss auf das gesellschaftliche Geschehen nimmt.

Unter der nahezu unendlichen Vielzahl von Bezeichnungen und Klassifizierungen, die kluge wie spinnerte Köpfe zur Beschreibung der Welt vorgeschlagen haben, ist die von Karl Popper die transparenteste: Die »Welt 1« ist die Welt der materiellen Dinge, die »Welt 2« die der individuellen Wahrnehmung und die »Welt 3« die der geistigen Gehalte. Der Unterschied zwischen Letzteren besteht darin, dass der Welt 2 die gesamte persönliche Subjektivität eines Individuums zugrunde liegt, die unübertragbaren Gedanken, Bilder, Empfindungen und Gefühle eines jeden Einzelnen, während die Hervorbringungen der Welt 3, wenn auch geboren aus der individuellen Subjektivität, öffentlich geworden sind: wissenschaftliche Theorien, Rechtsinstitute, ethische Prinzipien, Romanfiguren, Philosophie, Kunst, Dichtung, kurz, das gesamte kulturelle Gut.

Die Annahme dürfte nicht allzu abwegig sein, dass im Urstadium der Zivilisation die Welt 1 das Leben bestimmt. Es organisiert sich im Hinblick auf die rohen Kräfte und

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